Im Turm-Café

Coach: Worüber möchten Sie heute sprechen?
Gast: Ich habe ein Problem, mit allem fertig zu werden, was den ganzen Tag auf mich einfällt. Alles lenkt mich ab von dem, was ich gerade tue.
C: Nennen Sie mir ein Beispiel.
G: Ich entwerfe gerade Bademoden. Dabei suche ich nach passenden Stoffen. Dabei fällt mir ein, dass ich auch nach Garnen, Verschlüssen, Applikationen suchen müsste. Bei der Suche nach Verschlüssen finde ich Haken und Ösen, Reißverschlüsse verschiedenster Art, Klettverschlüsse. Dies bringt mich wieder zum ursprünglichen Gedanken, was passt womit zusammen. Und dabei überlege ich, ob immer alles zusammenpassen muss, oder ob es nicht reizvoll ist, Widersprüche herzustellen.
C: Was wäre ein Widerspruch?
G: Ein winziger Bikini, der mit riesen Ringen und Haken zusammengehalten wird.
C: Warum ist das ein Widerspruch?
G: Ist doch lustig: vorn und hinten nur ein kleines Stoffdreieck, auf den Hüften sooolche Ringe zum zusammenhalten. Ähnlich könnte man’s auch beim Oberteil machen.
C: Kann ich mir auch lustig vorstellen. Aber wo ist der Widerspruch?
G: Na, die Verbindung von groß und klein.
C: Empfinden Sie das immer als lustig, die Verbindung von groß und klein?
G: Hm, eigentlich nicht. Oder doch: ein kleiner Mann und eine große Frau.
C: Und umgekehrt?
G: Da nicht, das ist doch normal, dass der Mann größer ist.
C: Ja, das ist häufig so. Warum ist das für Sie normal.
G: Wieso für mich? Das sieht doch jeder so.
C: Wir sprechen jetzt über Sie. Ist die Ansicht anderer für Sie maßgeblich?
G: Nein, natürlich nicht!
C: Weichen Sie nicht aus. Seien Sie zu sich selbst ehrlich, wir plaudern hier nicht nur.
G: Gut, manchmal achte ich schon darauf, was üblich ist. Aber irgendwie gefallen mir Dinge besser, die etwas anders sind.
C: Nennen Sie mir ein Beispiel.
G: Da unten sind zwei Geschäfte, ein Antiquitätenhändler und ein Juwelier. Die Schaufenster sind fast gleich groß. Beim Antiquitätenhändler ist ein Sammelsurium an Möbeln, Lampen, Nippes und Geschirr ausgestellt, einfach so viel wie da irgendwie reinpasst, und beim Juwelier steht nur eine Vitrine mit drei schlichten Schmuckstücken auf einem Sockel. Sieht irgendwie edel aus.
C: Was ist das Besondere daran?
G: Das geht nach dem Motto „weniger ist mehr“, pars pro toto, so wie bei einem raffinierten Kleid: mehr andeuten als zeigen, die Phantasie anregen, nichts vorschreiben.
C: Und beim Antiquitätenhändler?
G: Da wird alles gezeigt, womit er angeben will. Völlig lieblos zusammengestellt. Da erwarte ich keine weiteren Überraschungen und geh gar nicht erst in den Laden.
C: Und woher kennen Sie, was Sie jetzt fühlen?
G: Zum Beispiel mag ich Gedichte lieber als Romane. Da kann ich einen ganzen Abend mit einem Sonett verbringen, die Bedeutung hinter oder zwischen den Zeilen suchen, die Form und den Rhythmus analysieren. Oder Musik: da mag ich eine kurze Sonate auch lieber als eine Symphonie oder eine Oper.
C: Was ist das für ein Gefühl, wie würden Sie es nennen?
G: Vielleicht Freiheit, oder Respekt.
C: Wieso Freiheit? Wieso Respekt?
G: Weil ich die Möglichkeit habe, selbst zu interpretieren, einen Sinn für mich zu finden. Ein Roman beschreibt alles genau und ausführlich, und der Autor verlangt von mir Aufmerksamkeit für seine Sicht der Dinge. Ich hab da nichts zu melden. Ein Gedicht ist mehr ein Vorschlag, eine Anregung. Ich kann richtig mit dem Dichter spielen, versuchen, ihn aus seinem Versteck zu holen. Aber das darf ich normalerweise keinem erzählen, ...
C: Wer verbietet das?
G: Weiß nicht.
C: Nicht ausweichen. Wer verbietet das?
G: Ach, ich mach mich doch nicht lächerlich!
C: Dem Dichter war es doch auch nicht peinlich, sein Gedicht zu veröffentlichen.
G: Das ist was anderes.
C: So? also: wer verbietet das?

... Es folgt eine sehr persönliche, sehr emotionale Rückschau auf Kindheitserlebnisse

C: Also auch damals wäre weniger mehr gewesen. Weniger Verbote, weniger Vorschriften, weniger Kontrolle. Unsere Zeit ist fast abgelaufen. Was nehmen Sie heute mit?
G: Ein paar nasse Taschentücher. Nein, Quatsch, ich hab erlebt, dass ich heulen kann ohne mich zu schämen. Aber ich glaube nicht, dass ich das überall können werde.
C: Das ist ja nicht überall angebracht. Und wie geht es weiter?
G: Weiß ich noch nicht. Ich muss das erst mal verdauen. Ich melde mich.

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