Im Schlosspark

Coach: Worüber möchten Sie heute sprechen?
Gast: Ich habe mitbekommen, wie ein Bekannter mehrmals die gleiche Geschichte über einen Fast-Unfall erzählt hat, und jedes Mal war es anders. Wie soll ich das verstehen? Wann hat er die Wahrheit erzählt, wann hat er gelogen, hat er überhaupt diesen Fast-Unfall selbst erlebt?
C: Was war an den Geschichten anders?
G: Mal war's auf der Autobahn, dann war's eine Bundesstraße. Mal hat er überholt, mal wurde er überholt. Mal konnte er gerade noch bremsen, mal musste er auf den Seitenstreifen ausweichen.
C: Schließt sich das denn alles aus?
G: Sicher doch. Das sind doch völlige Widersprüche!
C: Wo ist denn der erste Widerspruch?
G: Hab ich doch schon gesagt: Autobahn und Bundesstraße, überholen ...
C: Langsam, eins nach dem anderen. Können Sie einen Grund finden, warum er die Straße mal so und mal so bezeichnete?
G: Wenn er die Geschichte nur erfunden hat, dann ist es ihm egal, Hauptsache er kann sich hervortun.
C: Und wenn die Geschichte stimmt?
G: Hm, wie soll das gehen?
C: Vielleicht will Ihr Bekannter nur das eigene Erlebnis mitteilen, nicht so sehr die Details. Eine vierspurige Straße, ein plötzlicher, fast zu spät bemerkter Stau, Vollbremsung reicht nicht mehr, Ausweichmanöver nur noch über den Seitenstreifen möglich, und dann die Erleichterung bei allem Schreck, dass nichts passiert ist.
G: So einfach!? Warum dann nicht gleich so? Wozu jedes Mal eine andere Version?
C: Vielleicht, weil immer jemand anders angesprochen wurde. Wie erzählen Sie den, was Sie erlebt haben? Immer wortwörtlich gleich?
G: Sicher nicht. Das geht ja auch nicht immer.
C: Wovon hängt das ab?
G: Hm, irgendwie von der Situation, ob nur einer oder mehrere dabei sind. Aber normalerweise erzähl ich solche Sachen nicht.
C: Was hindert Sie daran?
G: Nichts. Es kommt mir nur zu banal vor.
C: Was ist daran nicht in Ordnung, etwas Banales zu erzählen?
G: Das langweilt doch nur. Es ist wichtigtuerisch. Ich mag mich nicht aufspielen.
C: Was erzählen Sie dann?
G: Etwa was ich mal im Fernsehen erlebt habe, in einer politischen Diskussion, oder in einem Film. Was da so gesagt oder dargestellt wurde, wie peinlich da jemand vorgeführt wurde.
C: Sie sagten, dass Sie das erlebt haben. Haben Sie das wirklich erlebt?
G: Na ja, also zusehen und zuhören ist doch auch irgendwie erleben.
C: Irgendwie. Haben denn die Leute, die Sie da gesehen und gehört haben, etwas mit Ihnen zu tun?
G: Woher denn! Das ist doch eine völlig andere Welt.
C: Sie erzählen also lieber von einer anderen Welt als von Ihrer eigenen.
G: Ja, mir passiert ja nichts interessantes.
C: Und dass Sie jetzt darüber nachdenken und darüber reden ist für Sie auch nichts interessantes?
G: Für mich schon, aber das kann ich keinem anderen zumuten.
C: Haben Sie das schon mal erlebt, dass man Ihre Geschichten als Zumutung empfunden hat?
G: Ja, schon oft.
C: Wie äußert sich das?
G: Die Leute wenden sich ab, reden mit jemand anderem, wechseln das Thema oder haben zum gleichen Thema selbst etwas viel tolleres zu erzählen. Ich komm da einfach nicht durch.
C: Vorhin, die Geschichte mit dem Fast-Unfall. Ist das Ihnen passiert?
G: Nein. Das war wirklich ein Bekannter.
C: Aber Sie würden gerne auch so etwas von sich erzählen können, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
G: Nein, eher nicht. Ich mag mich nicht aufspielen.
C: Das sagten Sie schon mal. Aber was geht in Ihnen vor, wenn sich jemand anderes 'aufspielt?
G: Das ärgert mich. Irgendwie ist das vertane Zeit.
C: Sie sagen oft 'irgendwie'. Geht das etwas genauer?
G: Ich bin da nicht dabei, ich gehöre nicht dazu. Ich werde nur als Publikum benutzt.
C: Das ist doch dann das gleiche, wie beim Fernsehen, oder nicht?
G: Nicht ganz. Beim Fernsehen kann ich mich wirklich raushalten. Wenn jemand etwas erzählt und mich ansieht oder sogar anspricht, muss ich ja irgendwie reagieren.
C: Schon wieder 'irgendwie'. So kommen wir nicht weiter. Ich möchte Ihnen meinen Eindruck vorstellen. Das wird jetzt etwas weh tun, aber ich will Ihnen auch eine Möglichkeit anbieten, das zu überwinden. Wollen Sie das?
G: Dafür bin ich ja da.
C: Sie wollen beachtet und bewundert werden. Sie wollen so sein, wie die Leute, die Sie scheinbar ablehnen, weil Sie von denen zum 'Publikum' degradiert werden. Sie wollen auch ein Publikum haben, aber Sie befürchten, dass Ihr Auftritt ein Fiasko werden muss. Sie beneiden sogar die Leute, die scheinbar problemlos auch peinliche Situationen überspielen können. Bei Ihnen streiten sich unterschiedliche Gefühle und Überlegungen: Angst, Neid, Feigheit und Machtstreben und die selbsterfüllenden Prophezeiungen, dass Sie keinen Erfolg haben werden. Ein typisches Duckmäuserverhalten.
G: Sag ich doch, bei mir ist Hopfen und Malz verloren.
C: Klar, und Selbstmitleid tut ja auch sooo gut. Aber ich bin noch nicht fertig.
G: Kommt's noch schlimmer?.
C: Sie haben sich ein Repertoire an Verhaltensmuster zugelegt, die es Ihnen bisher ermöglicht haben, einigermaßen zu überleben: Sie hinterfragen, ob alles wahr und richtig ist, was man Ihnen erzählt, und suchen nach Wiedersprüchen. Auf diese Weise können Sie die tollen Leute, die Ihnen so imponieren, kleiner machen und sich selbst besser. Aber Sie spüren, dass Sie sich damit nur selbst täuschen. Im Grunde wollen Sie so sein können: locker, selbstbewusst, anerkannt.
G: Kann sein, aber man lässt mich ja nicht.
C: Jeder hat auf seine Weise das gleiche Problem. Kaum jemand wird Ihnen deshalb etwas schenken, schon gar nicht, wenn Sie so gut als 'Publikum' nutzbar sind. Aber Sie sehen in den anderen vieles, was auch in Ihnen steckt. Wäre es nicht so, könnten Sie es gar nicht erkennen. Das heißt, die Wahrheit oder Verlogenheit, die Ihnen an anderen auffällt, ist auch Ihre eigene Wahrheit und Verlogenheit. Mit einem aktuellen Begriff: Ihre Spiegelneuronen ermöglichen es Ihnen, bereits aus Gesten oder Stimmlage einer Person auf ihr Inneres zu schließen.
G: Aber sind das nicht nur Interpretationen? Sind die anderen nicht doch völlig anders?
C: In Nuancen sicherlich, aber nicht grundsätzlich. Seien Sie nicht beleidigt, dass Sie nicht einmalig anders sind. Sie sind zwar einmalig in der Zusammensetzung und Ausprägung Ihrer Eigenschaften, aber jede für sich finden Sie bei anderen immer wieder. Und was die Interpretation betrifft, da müssen Sie sich selbst durchringen: Hören Sie auf Ihren Bauch. Wann projizieren Sie, wann wehrt sich etwas in Ihnen.
G: .
C: .


... Es folgt eine eingehende Betrachtung über literarische, erkenntnistheoretische und esoterische Definitionen des Wahrheitsbegriffs, der Problematik von Objektivität und Messbarkeit von Aussagen.

C: Wahrheit ist also eine sehr subjektive Angelegenheit. Unsere Zeit ist fast abgelaufen. Was nehmen Sie heute mit?
G: Die Sache mit den Projektionen und den Spiegelneuronen. Da muss ich mich mal etwas schlauer machen.
C: Und Ihre Einschätzung Ihres 'Bekannten' noch mal überprüfen? Und wie geht es weiter?
G: Am liebsten gleich. Irgendwie hab ich schon wieder den Eindruck, gerade erst angefangen zu haben, aber das geht wohl heute nicht mehr. Wie wär's nächste Woche, gleiche Zeit, gleiche Stelle.
C: Geht in Ordnung. Ich hab' Sie vorgemerkt.

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Das heutige Thema:


Was

ist

Wahrheit






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